Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. (Lk 2,48)
Wir haben letzte Woche die Geburt Christi gefeiert; ja, der Christbaum steht als Zeuge immer noch da und auch die Krippe, wo noch das Jesuskind liegt. Und das ist auch gut so, denn bis zum 2. Februar haben liturgisch immer noch die Weihnachtszeit und am 6. Januar sollten ja noch die drei Könige vorbeikommen und das Kind in der Krippe finden, um es anbeten zu können. In unserem heutigen Evangelium ist das Kindlein allerdings schon zwölf Jahre alt.
«Das ging ja schnell», könnte man jetzt sagen. Oder anders: Warum liest man am 1. Sonntag nach Weihnachten überhaupt diesen Text, wo Jesus bereits zwölf Jahre alt ist?
Der eine (etwas pragmatische) Grund ist, dass wir im Neuen Testament kaum Texte haben, die uns etwas über die Kindheit Jesu verraten: Wir wissen nicht, wie er als Kind war, ob er Brei gegessen hat, oder wann er seine ersten Schritte gemacht hat. All die Erinnerungen, die wir in unseren Familien aufbewahren und unseren Kindern und Enkelkindern einmal erzählen, fehlen uns im Leben Jesu. Und auch die wenigen Geschichten, die uns die Evangelisten Matthäus und Lukas aus der Kindheit Jesu erzählen, wecken den Eindruck, dass es sich hier um geschickte Konstruktionen antiker Geschichtsschreiber handelt. Denn sie verfolgen andere Ziele, als uns einige Anekdoten aus der Kindheit Jesu zu erzählen. Vielmehr zeichnen sie das Leben Jesu auf dem Hintergrund der alttestamentlichen Verheissungen und Lukas orientiert sich dabei noch am Leben des Kaisers Augustus, den er wohl auch aus diesem Grund in seiner Weihnachtsgeschichte namentlich erwähnt. Denn für die Bewohner des Römischen Reiches war die Zeit des Friedens unter Augustus das «Goldene Zeitalter», das beispielsweise der bekannte römische Dichter *Vergil* in seinem «Hirtenlied» (40 v.Chr.) mit folgenden Worten besingt:
> Jetzt ist die letzte Zeit nach dem Lied der Sibylle gekommen, und es beginnt von neuem der Zeiten geordnete Folge. Nun kehrt wieder die Jungfrau, kehrt wieder das Reich des Saturn, nun wird ein Spross entsandt aus himmlischen Höhen. Sei der Geburt des Knaben, mit dem die eiserne Weltzeit gleich sich endet und rings in der Welt eine goldene aufsteigt, sei nur, Lucina, du Reine, ihm hold … (Klauck 1999:11)
Das klingt fast wie die Prophezeiung über die Geburt Christi aus dem Buch des Propheten *Jesaja* (9,1–6).
Und auch zu unserem heutigen Evangelium gibt es eine interessante Parallele aus dem Leben des Augustus, denn wie der römische Schriftsteller *Sueton* (ca. 70–122 n.Chr.) in der Biografie des Augustus später erzählt, bereits
> [m]it zwölf Jahren hielt [Augustus] die öffentliche Leichenrede für seine verstorbene Großmutter Iulia. Vier Jahre später wurde er, nachdem er schon die Männertoga angelegt hatte, beim afrikanischen Triumph Caesars mit militärischen Auszeichnungen geehrt, obgleich er wegen seines Alters am Krieg nicht teilgenommen hatte. (Sueton: Kaiserbiographien 8.1)
Was also Lukas mit seinen Weihnachts- und Kindheitsgeschichten sagen will, ist ziemlich offensichtlich: Nicht mit Augustus, sondern mit Jesus bricht das wahre Goldene Zeitalter an, und zwar nicht nur im Römischen Reich, sondern in der ganzen Welt. Dies beantwortet allerdings noch nicht die Frage, warum wir heute, am 1. Sonntag nach Weihnachten, gerade diesen Abschnitt aus dem Lukasevangelium lesen.
Der liturgische Grund ist die Familie Jesu: Nicht nur das Jesuskind, sondern auch die «Heilige Familie» sollte in unseren Fokus rücken. Und ja, für die Eltern unter uns ist es vielleicht einigermassen beruhigend zu erfahren, dass auch in der «Heiligen Familie» ein Kind verloren gehen kann. Und die Eltern merken es sogar erst nach einem Tag, zumal sie meinten, er sei in einer anderen Pilgergruppe bei den Verwandten und Bekannten (V.44). Das war aber nicht der Fall. Der Knabe ist einfach etwas eigenwillig in Jerusalem geblieben. Die Eltern mussten also zurückkehren, um ihn zu suchen. Voll aufgebracht finden sie ihn dann im Tempel im Kreis der Gelehrten und sagen zu ihm: «Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht» (Lk 2,48). Ich denke, man kann die Sorgen und die Angst der Eltern gut nachvollziehen und es ist auch vollkommen verständlich, dass sie nun von dem Knaben eine Erklärung verlangen. Die Antwort Jesu katapultiert das Eltern-Kind-Problem allerdings auf eine ganz neue Ebene. Denn er sagt zu seinen Eltern: «Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?» (V.49) Diese Antwort Jesu erinnert schon sehr auf seine missverständlichen Antworten im *Johannesevangelium*, wo er zu seinen Zuhörern in Jerusalem beispielsweise sagt:
> Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? Er aber meinte den Tempel seines Leibes. Als er von den Toten auferweckt war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte … (Joh 2,19–22)
In der Literatur nennt man dies die «Johanneischen Missverständnisse», denn das vierte Evangelium ist voll von solchen seltsamen Antworten und Reden Jesu. Aber wie wir sehen, findet man sie auch bei Lukas und in den anderen Evangelien. Und, um die Antwort Jesu in diesem Fall zu verstehen, muss man die Ebene des irdischen bzw. der wörtlichen Bedeutung verlassen und die himmlische bzw. die geistige Bedeutung heranziehen, wie es in unserem heutigen Evangelium der Fall ist: Denn würden Maria und Josef wirklich glauben, dass GOTT der wahre Vater Jesu ist, müssten sie sich keine Sorgen machen und sie wüssten auch gleich, wo sie ihn suchen müssen – natürlich im Haus seines leiblichen Vaters, d.h. im Tempel in Jerusalem.
Diese Antwort Jesu kann man nun als sehr spitzfindig empfinden, aber das ist die Logik, die dahintersteht. Und das ist auch das Problem, das wir als Christen in unserem Alltag haben: Unser Glaube bleibt meistens theoretisch. Wir wissen, was wahr und richtig ist, handeln im Alltag aber weiterhin als Unwissende. Wie Maria und Josef in unserem heutigen Evangelium: Maria wurde ja von Engel Gabriel besucht, mit Josef hat Gott im Traum gesprochen und sie haben beide das Weihnachtswunder erlebt: Ein Stern ist erschienen, Hirten wurden von Engeln begleitet und sind zur Krippe gekommen, und Könige aus dem Osten haben dem Kind wertvolle Gaben gebracht. Dann ist aber wieder der Alltag eingekehrt und das Weihnachtswunder ist nach und nach verblasst, sodass die Eltern den Knaben eines Tages sogar verlieren und in Panik geraten. Dabei war er in Wirklichkeit nie verloren, sondern er war genau dort, wo er sein musste: im Haus seines Vaters. Und so denke ich, dass uns diese Geschichte am 1. Sonntag nach Weihnachten ein Gleichnis und eine Mahnung sein will. Wir haben ja alle gerade wieder das Weihnachtswunder erlebt. Lassen wir es also nicht verblassen! Sondern lasst uns auch durch den Alltag im Glauben gehen. Sollte es aber dennoch passieren, dass wir das Jesuskind eines Tages verlieren und Sorgen und Angst wieder die Oberhand gewinnen, sollten wir nicht mit den Worten beten: «HERR, warum hast du uns das angetan? Siehe, wir haben dich mit Schmerzen gesucht!» Vielmehr sollten wir uns an all die erlebten Wunder erinnern, denn dann wissen wir auch, wo wir ihn finden werden, damit er auch zu uns nicht sagen muss: «Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?»