Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen? (Joh 1,46)
Jeder von uns kennt es wahrscheinlich: je älter man wird, desto weniger Illusionen hat man. Irgendwann hat man erfahren, dass die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum in Wirklichkeit nicht von dem Christkind sind, aber das war erst der Anfang, denn inzwischen ist man erwachsen geworden. Man ist kein kleines Kind mehr und weiss, wie die Welt funktioniert. Man hat gelernt die Sachen realistisch zu sehen und weiss, dass einiges sehr unwahrscheinlich ist: Echte Wunder passieren selten und auch von der Politik sollte man nicht zu viel erwarten. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer und auch die Kirche wird die Welt nicht retten, sonst hätte sie es ja schon getan. «Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun», wie es im Buch Kohelet sehr schön geschrieben steht (Koh 1,9). Die Bibel ist hier – im Unterschied zu vielen gesellschaftlichen Utopien – sehr realistisch, was die Menschen betrifft, sie hat keine Illusionen. Die Schrift ist voll von Geschichten über Menschen, die versagen, dem Herr nicht folgen, nicht glauben oder einfach so ziemlich skeptisch sind, wie zum Beispiel Natanaël in unserer Erzählung.
Als ihn Philippus unter dem Feigenbaum findet und ihm fröhlich verkündet: «Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazaret», antwortet dieser Natanaël einfach: «Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen?» – und dies etwa nicht aus dem Grund, weil aus Nazaret nur Schlechtes komme. Nein, es ist vielmehr überraschend, dass aus diesem galiläischen ‹Kaff› überhaupt etwas kommt. Was für eine Arroganz, würde man heute sagen. Doch Natanaël hat jeden Grund zu dieser Skepsis: Er ist ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit, und wohl in der Schrift belesen, wenn man dies aus der Tatsache herauslesen darf, dass er unter einem Feigenbaum sass, wo ein echter Israelit die Schrift studiert. Jedenfalls steht in seiner Bibel nichts von «Nazaret». Und hätte er die Möglichkeit gehabt, die Experten heranzuziehen – wie wir es heutzutage gerne tun oder wie es König Herodes im Matthäusevangelium tat (Mt 2,5) –, würden sie es bestätigen: Der Messias kommt nicht aus «Nazaret», sondern aus «Betlehem in Judäa». Also kein Grund für Natanaël mit dem verwirrten Philippus irgendwohin zu gehen, denn Mose und andere Propheten haben nichts über Nazaret geschrieben. Einfach gemütlich unter dem Feigenbaum bleiben, lesen, studieren, geniessen und auf den Messias warten.
Natanaël war also ein guter Israelit und die Schrift und die Theologen seiner Zeit wären zweifelsohne auf seiner Seite gewesen. Deswegen ist es etwas unverständlich, dass er dann doch aufsteht und mit Philippus geht. Und dieser muss ihn nicht einmal überreden, sondern er sagt zu ihm einfach: «Komm und sieh!». Vielleicht war Natanaël nur neugierig oder es war mit der Zeit doch langweilig unter dem Feigenbaum? Das Motiv erfahren wir von dem Evangelisten nicht und dieses spielt in seiner Erzählung auch keine Rolle. Wichtig ist nur, dass er irgendwann aufsteht und mit Philippus zu Jesus kommt – das ist das einzige, was in den johanneischen Erzählungen zählt. In diesem Augenblick verändert sich nämlich sein Leben und nichts ist mehr wie es einmal war: Denn dieser Jesus sieht eindeutig etwas, was eigentlich nur Gott sehen kann, wie es auch der Psalmist bekennt: «Herr, du hast mich erforscht, und du kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weisst von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken» (Ps 139,1–2). In diesem Augenblick, in dem Natanaël von Jesus erkannt wird, erkennt Natanaël auch Jesus und er wird für ihn zum «Meister», zum «Sohn Gottes» und dem «König von Israel»; ungeachtet dessen, dass er aus Nazaret kommt.
Die Botschaft des Johannesevangeliums ist hier einfach: Menschen verändern sich, wenn sie Jesus begegnen, zumal sie in ihm Gott begegnen. Und das Leben der Menschen, die Gott begegnen, verändert sich auch; wie bei Natanaël: Zu ihm heisst es am Ende unserer Erzählung: «Du wirst noch Grösseres sehen … ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn». Ein rätselhaftes Wort, ein Spruch, wie aus einem Orakel – was soll man sich darunter vorstellen? Es ist eine Anspielung auf eine uralte Erzählung aus Genesis 28, wo sich Gott im Traum auf genau dieser Art und Weise Jakob offenbart, der gerade auf der Flucht vor seinem Bruder Esau ist – ohne Schutz, ohne Essen, ohne Kleider und ohne Heimat. Doch in dieser Nacht gibt ihm Gott eine neue Heimat, nämlich das Land, wo er übernachtet hat, und Jakob nennt den Ort Bet-El (Gotteshaus). Und so können wir jetzt auch den rätselhaften Spruch Jesu verstehen: Natanaël und allen, die Jesus folgen, wird eine neue Heimat mit einem neuen «Haus Gottes» versprochen – einem Ort, wo das Tor zum Himmel ständig offen ist, wo die Engel wie Postboten ohne Unterbruch hin und her pendeln und die Erde mit dem Himmel verbinden. Natanaël und die ersten Jünger konnten diese «Hochzeit» zwischen der Erde und dem Himmel auch gleich erleben und zwar in dem Heimatort von Natanaël in Kana in Galiläa (vgl. Joh 21,2), wo Jesus das Wasser in Wein verwandelt hat. Die Erzählung folgt unmittelbar nach unserer Geschichte und am Ende heisst es: «So tat Jesus sein erstes Zeichen … und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn» (Joh 2,11). Und wir alle wissen, dass es in der Tat erst der Anfang dieser ganzen wunderbaren Geschichte Gottes war.
Doch sehr wahrscheinlich wäre nichts davon passiert, wenn Natanaël unter dem Feigenbaum geblieben wäre. Was hat ihn bewegt? Wir wissen es nicht, es steht aber ziemlich fest, dass es keine theologischen Argumente oder Schriftbeweise waren. Die wären nutzlos gewesen. Es heisst einfach «Komm und sieh!», mit anderen Worten: Komm und mache deine eigene Erfahrung. Philippus wusste, dass ihn die Begegnung mit Jesus verändern wird, und vielleicht auch, dass Natanaël neugierig und für Neues offen ist. An einer anderen Stelle in der Bibel heisst es: «Werdet wie die Kinder!» (Mt 18,3). Es bedeutet für mich unter anderem: Bleibt neugierig, bleibt offen für Neues, aber auch: Ihr könnt Fehler machen, ihr könnt ausprobieren, und lasst euch nicht davon abraten Träume zu haben. Die Einladung «Komm und sieh!» funktioniert aber nur dort, wo etwas zu sehen ist: Wenn man wirklich die Möglichkeit hat das «Haus Gottes» zu betreten, Gott zu begegnen und diese Erfahrung zu machen. Doch das «Haus Gottes» erinnert zur Zeit Jesu eher an den Tempel zur Zeit Elis und seiner Söhne aus unserer ersten Lesung. Dort heisst es: «In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten; Visionen waren nicht häufig». Mit anderen Worten: Das Tor zum Himmel war mehr oder weniger geschlossen. Denn Elis Söhne haben aus dem «Haus Gottes» ein Unternehmen gemacht – nicht ganz unähnlich dem Tempel zur Zeit Jesu, wo es heisst: «Macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!» (Joh 2,16). Heute sind wir der Tempel Gottes (Eph 2,21) und es macht auch heute einen fundamentalen Unterschied, ob unsere Vision von der Marketing-Abteilung stammt oder von Gott. Denn in dem ersten Fall bringen wir Menschen nur zu uns, in dem zweiten Fall dagegen zu Gott. Und nur in diesem Fall gilt uns das Wort des Apostels: «Ihr seid jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes» (Eph 2,19).
Unsere Aufgabe als Kirche unterscheidet sich nicht von der des Philippus, nämlich Menschen einfach zu «Jesus« zu bringen, wobei «Komm und sieh!» im Grunde die einzigen Worte sind, die wir dazu brauchen. Die einzige Voraussetzung ist allerdings, dass Menschen in unserer Mitte diese Erfahrung machen können, das heisst «Jesus» und hiermit «Gott» begegnen. Mit anderen Worten gesagt, dass wir als Christen authentisch sind. Unsere Sorge sei also an erster Stelle ein wahrer Tempel Gottes zu werden, ein Ort, wo die Engel ohne Unterbruch auf- und niedersteigen können, um die Erde mit dem Himmel zu verbinden, und nicht die Besucher-Zahlen, wie in einer Markthalle. Doch was bedeutet es konkret ein Tempel Gottes zu werden? Konkret bedeutet es für jede und jeden von uns und uns alle einen Raum im Alltag zu schaffen, der keine Markthalle ist, das heisst einen Raum der Stille, der von dem alltäglichen lauten Geschäft getrennt ist und den ich so bewusst wahrnehmen kann. Denn jeder Tempel braucht eine Mauer, die ihn von der Welt trennt und ist ein Bau, der sich von anderen Bauten unterscheidet. In dieser Zeit wende ich mich dann der «Lade Gottes» zu, das heisst der Schrift, und lasse die «Lampe Gottes», das heisst den Geist, brennen und sage wie Samuel zu Gott: «Rede, denn dein Diener hört». Das ist alles: Indem ich jeden Tag, (seien es nur 10 Minuten), einen kurzen Abschnitt der Schrift langsam Wort für Wort lese, darüber nachdenke und mit Gott spreche, werde ich zum Tempel Gottes und einem «lebendigen Stein» seiner Kirche (1Pe 2,5). Es sind kleine Schritte auf dem Weg mit Gott und sie sind nicht anspruchsvoll, doch entscheidend ist, ob ich wie Natanaël aufstehe und sie mache oder nicht, denn jede grosse Reise besteht aus vielen kleinen Schritten.