Als sie gegessen hatten, sagte Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Lämmer! Zum zweiten Mal fragte er ihn: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe! Zum dritten Mal fragte er ihn: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Da wurde Petrus traurig, weil Jesus ihn zum dritten Mal gefragt hatte: Liebst du mich? Er gab ihm zur Antwort: Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe! Amen, amen, ich sage dir: Als du jünger warst, hast du dich selbst gegürtet und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst. Das sagte Jesus, um anzudeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen werde. Nach diesen Worten sagte er zu ihm: Folge mir nach! (Joh 21,15–19)
Die Schweiz hat heute Geburtstag und das sogar einen runden, denn sie ist 730 Jahre alt, (wenn man die Jahre von dem legendären ‹Rütlischwur› zählt). Und wir sind hier in der Kirche zusammengekommen, um es gemeinsam zu feiern. Nach der Predigt werden wir auch den ‹Schweizerpsalm› singen, der musikalisch auf das Messgesang Diligam te domine zurückgeht, in dem auf Latein folgende Worte aus dem 18. Psalm erklingen:
Ich will dich lieben, HERR, meine Stärke,
HERR, du mein Fels und meine Burg und mein Retter;
mein Gott, mein Fels, bei dem ich mich berge… (Ps 18,2.3a)
Und so bin ich, als ich nach dem Predigttext für den heutigen Gottesdienst gesucht habe, zu dem Epilog des Johannesevangeliums gekommen, wo der HERR Petrus ja dreimal fragt: «Liebst du mich…?» (Joh 21,15.16.17).
Die Liebe gehört ja ohnehin zu Geburtstagen: Wir besuchen jedes Jahr unsere Liebsten an ihrem Geburtstag, um sie zu beschenken und unsere Liebe auszudrücken. Und wir halten diese Momente auf Fotos und in Erzählungen der Familien fest, um sich dann später an sie gemeinsam zu erinnern und auf das Leben zurückzuschauen. Bei den ‹Staatsgeburtstagen› ist das nicht anders und sie unterscheiden sich von den ‹menschlichen› Geburtstagen nicht so sehr, wie man zuerst denken würde. Niemand von uns erinnert zwar das Jahr 1291 und wir kennen das Geschehen nur aus Büchern oder Erzählungen – an den Tag der eigenen Geburt (und sehr wahrscheinlich auch an die ersten Geburtstage) erinnert man sich aber auch nicht: Wir sind auch hier auf die Erinnerungen von anderen angewiesen und auf die Fotos, die vielleicht unsere Eltern gemacht haben. Dennoch kommen wir jedes Jahr zusammen, um es zu feiern. Als Kirche haben wir dann noch etwas mehr zum Feiern: Wir kommen zusammen nicht nur am 1. August, sondern zum Beispiel auch zu Weihnachten, und zu Ostern, und eigentlich an jedem Sonntag, (dem Tag der Auferstehung), oder zum Abendmahl, wo wir dazu von HERRN sogar mit den Worten aufgefordert werden: «Tut dies zu meinem Gedächtnis!» (1Kor 11,24). Doch warum tun wir es eigentlich? Warum pflegen wir all diese Traditionen? (Natürlich ungeachtet der Tatsache, dass die meisten von uns gerne feiern).
Der tschechische Philosoph (und der erste Präsident der Tschechoslowakei) Tomáš Garrigue Masaryk hat dazu folgendes gesagt:
Staaten leben von den Ideen,
die an ihrem Anfang standen.
Und solange Menschen für diese Ideen brennen und sie versuchen zu leben, solange bleiben auch die Staaten bestehen, die auf ihnen gegründet sind. Denn wie der deutsche Dichter Hermann Hesse, (der ja einige Jahre auch am Bodensee gewirkt hat), in seinem bekannten Gedicht «Stufen» schreibt:
… jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Die Tradition(en), die wir mit unseren Feiern jedes Jahr pflegen, könnte man so mit einem grossen Baum vergleichen, wie es auch Jesus tut, wenn er über das Reich Gottes in einem Gleichnis sagt:
Es ist wie ein Senfkorn, das ein Mann nahm und in seinen Garten säte; es wuchs und wurde zu einem Baum und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen. (Lk 13,19)
Die Tradition ist ein grosser Baum, der uns schützt und uns einen Lebensraum schenkt, wenn wir ihn schützen und pflegen.
Und das Evangelium, das wir heute gehört haben, zeigt uns, wie es geht. Das Johannesevangelium nimmt uns in seinem Epilog in die Zeit nach Ostern mit, als sich Jesus seinen Jüngern am See von Tiberias offenbarte und ihnen nach einem wunderbaren Fischfang das Essen spendierte (Joh 21,1–14). Das sollte sie an den Anfang erinnern: an die Zeit als er sie als Jünger berufen hat, denn auch damals gab es einen wunderbaren Fischfang (Lk 5,1–11). Und danach fragte er dreimal Petrus, ob er ihn liebt (V.15–17). Dies sollte Petrus an die Mitte seines Lebens erinnern: Jesus hat ihn dreimal gefragt, um ihn an seine dreifache Verleugnung zu erinnern (Joh 18,15–27) und ihn so von seiner Schuld zu befreien. Denn, wie er in diesem kurzen Gespräch mit ihm andeutet, der Weg, der vor ihm liegt, wird am Ende kein leichter sein.
Das Sich-Erinnern, auch wenn es ab und zu auch schmerzhaft sein mag, ist heilsam und es ist zweifelsohne immer eine gute Investition in die Zukunft. Denn wie es der grosse italienische Bildhauer, Maler, Baumeister und Dichter Michelangelo (1475–1564) gesagt haben soll:
Gott hat der Hoffnung einen Bruder gegeben. Er heisst Erinnerung.
Als Künstler war Michelangelo natürlich ein Meister der Erinnerung und er hat ihr in seinen Werken eine ewige Dimension verliehen, sodass seine Werke von Menschen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen bewundert werden können. Doch er zeigt uns auch, dass das Neue in unserem Leben, (wenn es überdauern soll), nur durch eine Rückbesinnung auf den Anfang entstehen kann. So war beispielsweise auch die Reformation keine neue Idee, die am Schreibtisch eines Akademikers entworfen wurde, sondern die Reformation entstammt in ihrem Kern der Rückbesinnung auf die Anfänge des Christentums.
Das Neue muss in unserem Leben natürlich Platz haben, sonst würden wir uns im Kreis drehen. Doch ohne die Erinnerung und die schönen Feiern, die ihr eine konkrete Gestalt geben und die wir jedes Jahr begehen, würde unser Leben an eine chaotische Linie erinnern. So ein Leben gleicht dann ‹einer Meereswoge, die vom Wind hin und her getrieben wird› und so ein Mensch wird ‹unbeständig auf allen seinen Wegen› sein, wie es Jakobus in seinem Brief schreibt (Jak 1,6.8). Denn ein solcher Mensch wird irgendwann nur vom Zeitgeist getrieben und nicht vom Heiligen Geist. Das christliche Leben, (und das gilt im Grossen und Ganzen auch für ein christliches Land), sollte vielmehr an eine Spirale erinnern. Diese hat eine feste Mitte, lässt die Wiederholung zu und doch kann sie sich unendlich entfalten.
Wie es auch Rainer Maria Rilke in einem Gedichte über sein Leben sehr schön schreibt:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiss noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein grosser Gesang.
Wenn wir also heute den Geburtstag der Schweiz feiern, tun wir damit nicht nur etwas, was uns Spass macht, sondern auch etwas sehr Wichtiges für die Zukunft. Und es spielt dabei nicht so grosse Rolle, wie wir es feiern, sondern, dass wir es feiern.
Es ist in der Tat ein wenig so, wie bei den Geburtstagen von den Eltern oder Grosseltern. Ich weiss natürlich nicht, wie es bei Ihnen so ist, aber bei uns hat den Eltern oder Grosseltern die meiste Freude schon die Erinnerung an sich gemacht: ein Anruf, ein Wort, eine Nachricht oder ein kurzes Beisammensein. Das Geschenk oder all das, was wir dann am Ende konkret unternommen haben, war eher zweitrangig; wichtig war die Gemeinschaft.
In diesem Sinne wünsche ich also der Schweiz heute alles Gute zum Geburtstag und uns allen mit ihr eine schöne Feier!