So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. (Lk 2,16)
In der Advents- und Weihnachtszeit ist alles anders, auch bei uns in der Kirche: Ein Adventskranz mit vier Kerzen schmückt seit dem ersten Advent den Taufstein. Und nun steht hier auch ein grosser Baum, der wunderbar geschmückt ist. Und seit Wochen sind auch die Krippenfiguren unterwegs, die in diesem Jahr ein 30jähriges Jubiläum feiern und jetzt eine Weihnachtskrippe bilden. Die Weihnachtskrippen haben seit dem frühen Mittelalter in Europa die Blicke sowohl der Grossen als auch der Kleinen immer auf sich gezogen. Denn in den Weihnachtskrippen wimmelt es nur so von Hirten, Engeln, einfachen Menschen und Königen, Schaffen und den unterschiedlichsten Tieren. Und ein grosser Stern schwebt über dem eigentlichen Zentrum des ganzen Geschehens – dem Stall, wo zwischen Maria und Josef das Jesuskind liegt und Licht ausstrahlt. Und egal, ob man nun eine grosse Krippe mit tausenden Figuren hat, oder nur eine Miniatur, die man zu Weihnachten auf dem Schreibtisch aufstellen kann – die Weihnachtskrippe hat etwas Magisches an sich. Sie stellt eine kleine Welt dar, in die wir eintauchen können. Sie ermöglicht uns auf eine besondere Art und Weise bei der Geburt Christi dabei zu sein. Denn, wenn wir an der Weihnachtskrippe stehen und sie betrachten, werden wir ein Teil dieser magischen Welt.
Natürlich wissen wir, dass es damals anders war und dass wir vor uns eine wunderschöne künstlerische Fiktion haben. Doch wir lassen uns auf diese Fiktion ein. Und wenn wir es tun – und man hat jetzt an den Feiertagen ausreichend Zeit, es auszuprobieren – merken wir, dass es uns verwandelt. Denn diese weihnachtliche Betrachtung der Krippe stoppt die Hektik um uns herum. Die Welt bleibt kurz stehen und die Weihnachtskrippe, wo in der Mitte friedlich das Jesuskind schläft, führt uns zu unserer eigenen Mitte und erzählt uns eine wunderbare Geschichte: Hier in einem einfachen Stall, auf Stroh und Tüchern, umgeben von Menschen und Tieren, liegt nicht nur ein kleines Kind, sondern GOTT selbst.
Und so will uns die Weihnachtskrippe ein Gleichnis sein für uns und die Welt: Denn auch in unserer Mitte schläft ein kleines Kind, ja GOTT selbst, da wir Christus empfangen haben. Auch in unserer Welt wimmelt es von Menschen, Königen, Tieren und vielleicht auch von Engeln und anderen Wesen. Und auch in unserer Welt gibt es dunkle Ecken und gefährliche Schluchten, die von dem Licht noch nicht erreicht worden sind. Es gibt aber auch in unserer Welt eine Mitte, die Licht ausstrahlt, eine Mitte, auf die wir uns verlassen können, wenn uns das weltliche Wimmeln und Treiben zu viel wird. Wir müssen nur dem Licht folgen. Denn das Licht führt uns bei jeder Weihnachtskrippe mit Sicherheit in das Zentrum, wo das Jesuskind liegt. Und wenn wir das Kind gefunden haben, stellen wir fest, dass Gott Mensch geworden ist. Das ist die Botschaft von Weihnachten. Der Mensch ist ein Tempel, wo Gott für immer und ewig anwesend ist.
Im Alten Testament gibt es dazu eine schöne Geschichte, die «Jakobsleiter» gennant wird und die seit Jahrhunderten die jüdische und christliche Mystik und Kunst prägt. Wir finden sie im Buch Genesis, im 28. Kapitel, wo über Jakob Folgendes erzählt wird:
Er kam an einen bestimmten Ort und übernachtete dort, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Da hatte er einen Traum: Siehe, eine Treppe stand auf der Erde, ihre Spitze reichte bis zum Himmel. Und siehe: Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der HERR stand vor ihm und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Siehe, ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe. Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. Er fürchtete sich und sagte: Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort! Er ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels. Jakob stand früh am Morgen auf, nahm den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt hatte, stellte ihn als Steinmal auf und goss Öl darauf. Dann gab er dem Ort den Namen Bet-El – Haus Gottes. (Gen 28,11–13a.15–19)
So entstand das «Haus Gottes» in «Bet-El» – ein heiliger Ort, ja ein Kraft-Ort, wo man Gott begegnen kann, wo man ihn anbeten kann, und wo man sich Hilfe holen kann, wenn man sie braucht. Und in der jüdischen und christlichen Kunst gibt es unzählige Bilder, die den schlafenden Jakob und seine Leiter illustrieren, die den Himmel und die Erde verbindet. Das ist aber noch nicht das Ende der Geschichte.
Im Neuen Testament, gleich am Anfang des Johannesevangeliums, greift Jesus dieses Bild aus dem Buch Genesis auf und sagt zu seinen Jüngern:
Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn. (Joh 1,51)
Und er spricht nicht nur über sich selbst, sondern ebenso über alle Töchter und Söhne des Menschen. Deswegen kann auch der Apostel Paulus den Christen in Korinth in seinem ersten Brief später schreiben:
Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? (1Kor 3,16)
Ja, wir Menschen sind der Tempel, in dem Gott wohnt, wo man ihm begegnen und ihn anbeten kann. In uns ist nun diese Leiter, die Himmel und Erde verbindet. Hier kann man sich Hilfe holen, wenn man sie braucht.
Allerdings darf man diese Mitte in uns nicht mit der Seele des Menschen verwechseln. Denn in diesem Fall würde das menschliche «Ich» bzw. das «Ego» im Mittelpunkt stehen. Das biblische Menschenbild ist vielmehr dreiteilig, wie der Tempel in Jerusalem: Der Mensch besteht aus dem Körper, der Seele und dem Geist; und nicht die Seele, sondern der Geist ist die Mitte, das «Allerheiligste» in diesem Tempel. Denn der Geist in uns ist das, was der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung das «Unbewusste» nennen würde, ein «UNBEKANNTER GOTT» in uns, wie Paulus diesen Gott in Athen nennt (Apg 17,22).
Wir wissen nun schon sehr viel über diesen «unbekannten Gott», das ist aber nicht unser Verdienst oder das Resultat unserer Bemühungen, wie Paulus an einer anderen Stelle im 1. Korintherbrief schreibt:
Wir verkünden, wie es in der Schrift steht, ‹was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben› [Jes 52,15b]. Uns aber hat es Gott enthüllt durch den Geist. Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes.
Das ist ein Zitat aus dem Buch Jesaja, wo der Prophet über Jesus spricht, und wo es im gleichen Satz in der Lutherübersetzung auch heisst:
Er wird viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. (Jes 52,15a)
Und das erfüllt sich mit Jesus, ja schon bei der Geburt dieses wunderbaren Kindes: Denn die Könige aus dem Morgenland kommen, um es anzubeten (Mt 2,1–12).
Und das ist auch der einzige Weg für uns, wenn wir GOTT begegnen wollen, dem unbekannten Geist in uns. Denn wir sind die Krippe, wo das Christkind geboren werden muss, wie es schön schon der Mystiker und geistliche Schriftsteller des 17. Jahrhunderts Angelus Silesius geschrieben hat:
Und wäre Christus tausendmal in Betlehem geboren und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.
«Und wie geschieht das?», könnte man nun fragen. Muss ich viel beten oder sogar fasten oder meditieren? Und meine Antwort wäre: «Nein». Das Kind ist ja schon da und war es immer. Und wenn wir in Stille etwa die Weihnachtskrippe oder den Christbaum betrachten, den Geist schweifen lassen und das Wimmeln und Treiben unserer Seele loslassen, werden wir auch das Kind in uns, in unserer Mitte, schlafend entdecken!