Das Perlenlied

Und der Heilige Geist kam sichtbar in Gestalt einer Taube auf ihn herab und eine Stimme aus dem Himmel sprach: «Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden». (Lk 3,22)

Erlauben Sie mir heute mit einem kurzen Gedicht der katholischen Theologin Dorothee Becker zu beginnen, das den Leitvers unseres Evangeliums aufnimmt:

In der Taufe
mit Gottes Liebe
überschüttet werden
Du bist mein geliebtes Kind
du gefällst mir sehr
Die Zugehörigkeit zu Jesus
unwiderruflich
wie ein Tattoo der Seele
Die Geistkraft Gottes empfangen
die lebendig macht

Das Gedicht fast sehr schön zusammen, was wir als Christen mit dem Sakrament der Taufe verbinden: die Liebe Gottes, die Vergebung der Sünden, das Empfangen des Heiligen Geistes, die Zugehörigkeit zu Jesus, ja das Christsein an sich – d.h. den Tod des alten (irdischen) Menschen und die Geburt eines neuen (himmlischen) Adams – also eine neue Existenz als Mensch.

Nun wird aber in unserem heutigen Evangelium auch Jesus getauft, der Sohn Gottes ist und dies alles eigentlich nicht ‹braucht›. Dies hat bei den Christinnen und Christen in den ersten Jahrhunderten für eine Verwirrung gesorgt und sehr viele waren überzeugt, Jesus wurde bei der Taufe von Gott als Sohn adoptiert. Jesus als Mensch war also von Anfang an gar nicht göttlich, sondern er ist erst mit der Adoption Gottes Sohn geworden. Deswegen bezeichnet man diese Strömung in der frühen Kirche auch als Adoptianismus.

Das erste Ökumenische Konzil von Nizäa im Jahre 325 n. Chr. hat dann für Ordnung gesorgt: Das Konzil erklärte Jesus Christus zum «wahren Gott aus wahrem Gott», (so wie wir es bis heute bekennen), und verurteilte hiermit die adoptianistischen Christinnen und Christen. Allerdings ist meines Erachtens mit diesem an sich richtigen Beschluss viel mehr in der Kirche untergegangen als der Adoptianismus. Und ich würde es wagen zu sagen, dass hier – auch wenn wohl unabsichtlich – das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde und wir die negativen Auswirkungen auf unseren christlichen Glauben noch heute spüren. Denn mit der ausserordentlich starken Betonung der Göttlichkeit Christi wurde nicht nur seine Menschlichkeit etwas in den Schatten gestellt, sondern vor allem die Göttlichkeit des Menschen fast vollkommen vergessen. Denn nun heisst es wiederum: Wir Menschen werden bei der Taufe von Gott adoptiert und erst mit der Taufe werden wir zu Kindern Gottes. Doch auch dieser ‹Adoptianismus› ist falsch, denn die Menschen waren schon immer Kinder Gottes, wie es bereits im Buch Genesis heisst:

Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie. (Gen 1,27)

Ja, wir Menschen – Männer und Frauen – sind nach dem Bild Gottes erschaffen. Und Jesus hält an dieser Theologie fest, wenn er einen bekannten Vers aus dem 82. Psalm (Ps 81 LXX) zitiert (Joh 10,34), wo es heisst:

Ich habe gesagt: Ihr seid Götter,
ihr alle seid Söhne des Höchsten. (Ps 82,6)

Und auch im Buch der Apostelgeschichte zitiert Apostel Paulus den griechischen Dichter Aratos (ca. 310–245 v. Chr.) und sagt in Bezug auf Gott:

In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem Geschlecht.

Zusammengefasst heisst es also: Wir Menschen sind in unserem Innersten göttlich und wir waren es schon immer – dies gehörte in der Antike fast schon zum Allgemeinwissen.

Nun könnte man allerdings berechtigterweise fragen: Was ist hier schiefgelaufen? Wieso spüren wir nichts davon? Wo ist unsere Göttlichkeit geblieben? Die biblische Antwort lautet: Das Bild Gottes im Menschen wurde beschädigt. Der Spiegel des göttlichen Geistes in uns liefert keine klaren Bilder mehr und die Menschen haben vergessen, wer sie sind. Doch wenn wir uns erinnern können, wer wir waren und wer wir sind, kann das Bild in uns repariert werden. Und dies geschieht im Christentum bei der Taufe, die aus diesem Grund im Titusbrief auch als das «Bad der Wiedergeburt» und die «Erneuerung im Heiligen Geist» bezeichnet wird (Tit 3,5). Hier wird nicht etwas Neues erschaffen, sondern etwas Uraltes repariert.

Es ist also so, als ob Sie im Garten Ihren alten, schon lange verlorenen, Ehering aus Gold wiederfinden würden – auch dieser Ring muss lediglich gereinigt werden. Oder es ist so, wie es in einer alten Geschichte aus Syrien erzählt wird, die ich heute mit Ihnen teilen will. Diese Geschichte ist eigentlich ein Gedicht und wird «Das Lied von der Perle» genannt. Dieses Lied erzählt von einem Kind aus königlicher Familie, das in der Welt verloren gegangen ist. Aber hören Sie selbst, ich erzähle Ihnen diese Geschichte, wie sie uns in den Thomasakten (ActThom 108–113) überliefert wurde: 1

Als ich ein kleines Kind war und in meinem Königreiche, in meinem Vaterhause, wohnte und mich erfreute am Reichtum und an der Pracht meiner Erzieher, entsandten mich meine Eltern vom Osten, unserer Heimat, nachdem sie mich ausgerüstet hatten. Und aus dem Reichtum unseres Schatzhauses schnürten sie mir eine Last zusammen, groß, doch leicht, sodass ich sie allein tragen konnte: Gold vom Hause der Hohen und Silber vom großen Gazak, Chalzedone aus Indien und Achate vom Reiche Kuschan. Und sie umgürteten mich mit dem Diamant, der Eisen ritzt, und sie zogen mir das strahlende Gewand aus, das sie mir in ihrer Liebe gemacht hatten, und die purpurne Toga, die nach dem Maße meiner Gestalt gewebt war. Und sie schlossen mit mir einen Vertrag und schrieben ihn mir in mein Herz, damit er nicht in Vergessenheit gerate: »Wenn du nach Ägypten hinabsteigst und die Perle bringst, die in der Mitte des Meeres ist, das der zischende Drache umschließt, dann sollst du dich wiederum in dein strahlendes Gewand und in deine Toga kleiden, die darauf liegt, und sollst mit deinem Bruder, unserem Zweiten, Erbe in unserem Reiche sein.« Ich brach auf vom Osten und stieg hinab, geleitet von zwei Wächtern, denn der Weg war gefährlich und schwierig und ich war zu jung, ihn zu gehen. Ich durchschritt das Gebiet von Maischan, dem Treffpunkt der Kaufleute des Ostens, und kam zum Lande Babel und betrat die Mauern von Sarbug. Ich stieg hinab nach Ägypten und meine Gefährten verließen mich. Ohne Umweg ging ich zum Drachen, nahm Wohnung nahe bei seiner Stätte, bis er schlummern und schlafen würde und ich die Perle ihm wegnehmen könnte. Und da ich völlig allein und den Mitbewohnern meiner Herberge ein Fremder war, erblickte ich dort einen Mann meines Stammes, einen Edelmann aus dem Osten, einen schönen und anmutigen Jüngling, einen Sohn Gesalbter; und er kam und hing mir an; ich machte ihn zu meinem Freund und meinem Gefährten und ließ ihn teilhaben an meinem Handel. Ich warnte ihn vor den Ägyptern und vor den Beziehungen zu den Unreinen. Ich aber bekleidete mich mit ihren Gewändern, damit sie nicht gegen mich Verdacht schöpften, ich sei von auswärts gekommen, um die Perle zu nehmen, und damit sie nicht den Drachen gegen mich aufweckten. Aus irgendeinem Grunde jedoch bemerkten sie, dass ich nicht einer der Ihren war. Und sie näherten sich mir listigerweise und gaben mir ihre Nahrung zu essen. Ich vergaß, dass ich ein Königssohn war, und diente ihrem König. Und die Perle vergaß ich, um derentwillen mich meine Eltern entsandt hatten; und durch die Schwere ihrer Speisen versank ich in tiefen Schlaf. Aber all dies, was sich mit mir begab, ward meinen Eltern kund und sie trauerten meinetwegen. Und in unserem Königreiche wurde verkündet, dass ein jeder zu unserem Tore komme: Die Könige und Häupter von Parthien und alle Großen des Ostens; und meinetwegen fassten sie einen Entschluss, dass man mich nicht in Ägypten lassen solle. Und sie schrieben einen Brief an mich, und jeder Große unterfertigte ihn mit seinem Namen: »Von deinem Vater, dem König der Könige, und deiner Mutter, der Herrin des Ostens, und von deinem Bruder, unserem Zweiten, dir, unserem Sohne in Ägypten, Gruß. Auf, erhebe dich von deinem Schlaf und höre auf die Worte unseres Briefes. Erinnere dich, dass du ein Königssohn bist. Siehe die Versklavung, siehe, wem du dienst! Entsinne dich der Perle, derentwegen du nach Ägypten geschickt wurdest! Erinnere dich deines strahlenden Gewandes und gedenke deiner prächtigen Toga, die du tragen sollst und mit der du geschmückt sein sollst, dass im Buche der Starken dein Name gelesen werde! Und mit deinem Bruder, unserem Stellvertreter, zusammen sollst du Erbe in unserem Reiche sein!« Der Brief war ein Brief, den der König mit seiner Rechten versiegelt hatte vor den Bösen, den Leuten von Babel und den wilden Dämonen von Sarbug. Er flog wie ein Adler, der König der Vögel. Er flog und ließ sich neben mir nieder, als ganzer wurde er Wort. Bei seiner Stimme, dem Geräusch seines Rauschens, erwachte ich und erhob mich von meinem Schlaf; ich nahm ihn auf und küsste ihn und löste sein Siegel und las. Ganz so wie in meinem Herzen aufgezeichnet, waren die Worte meines Briefes geschrieben. Ich entsann mich, dass ich ein Königssohn sei und dass meine Freiheit nach Verwirklichung dränge. Ich erinnerte mich an die Perle, um derentwillen ich nach Ägypten gesandt worden war, und ich begann den laut schnaubenden Drachen zu beschwören. Ich versenkte ihn in Schlummer und Schlaf, da ich den Namen meines Vaters über ihm aussprach und den Namen unseres Zweiten und den meiner Mutter, der Königin des Ostens. Und ich ergriff die Perle und wandte mich um, in mein Vaterhaus zurückzukehren. Und ich zog ihr schmutziges und unsauberes Gewand aus und liess es in ihrem Lande zurück. Und ich nahm meinen Weg zum Licht unseres Landes, zum Osten. Und meinen Brief, meinen Erwecker, fand ich auf dem Wege vor mir; wie er mich durch seine Stimme geweckt hatte, so führte er mich nun mit seinem Lichte. Auf chinesischem Stoff mit Rötel geschrieben, mit seinem Aussehen vor mir strahlend, mit der Stimme seiner Führung gab er mir Mut und zog mich mit seiner Liebe; ich zog vorwärts und durchquerte Sarbug. Ich ließ Babel zu meiner Linken und gelangte zum großen Maischan, zum Hafen der Kaufleute am Ufer des Meeres. Und das strahlende Gewand, das ich abgelegt hatte, und meine Toga, die es umhüllte, hatten meine Eltern von den Höhen Hyrkaniens durch ihre Schatzmeister hierhergesandt, die wegen ihrer Treue damit betraut wurden. Und wiewohl ich mich nicht seiner Würde entsann – denn ich hatte doch mein Vaterhaus in meiner Kindheit verlassen –, so wurde das strahlende Gewand doch plötzlich, als ich es mir gegenüber sah, wie mein Spiegelbild mir gleich. Ich sah es gänzlich in mir und ich sah mich in ihm mir gegenüber, denn wir waren zwei in Verschiedenheit und doch wiederum eins in einer Gleichheit. Und auch die Schatzmeister, die es mir gebracht hatten, sah ich in gleicher Weise: Sie waren zwei und doch waren sie gleich an Gestalt. Denn ein Siegel des Königs war auf sie gedrückt, dessen, der mir meinen Schatz und meinen Reichtum durch sie zurückstellte, mein strahlendes Gewand, geziert mit der Pracht herrlicher Farben, mit Gold und mit Beryllen, Chalzedonen und Achaten und mit verschiedenfarbigen Sardonen. Es war in seiner Erhabenheit angefertigt worden, mit Diamantsteinen waren alle seine Nähte befestigt, und das Bild des Königs der Könige war in voller Größe überall aufgemalt; Saphirsteinen gleich waren seine Farben gewirkt. Ich sah, dass in seinem ganzen Umfang die Bewegungen meiner Erkenntnis aufzuckten, und ich sah, dass es sich bereitmachte wie zum Sprechen. Ich hörte den Laut seiner Melodien, die es flüsterte bei seinem Herabkommen: »Ich gehöre zum hurtigsten Diener, den sie vor meinem Vater großgezogen haben, ich habe in mir verspürt, dass meine Gestalt mit seinen Werken wuchs.« Und mit seinen königlichen Gesten streckte es sich mir entgegen und es eilte an der Hand seiner Überbringer, dass ich es nähme. Und auch mich trieb meine Liebe an, ihm entgegenzueilen und es zu empfangen. Und ich streckte mich hin und empfing es. Mit der Pracht seiner Farben schmückte ich mich und ich hüllte mich ganz in meine Toga von glänzenden Farben. Ich kleidete mich in sie und stieg auf zum Tor der Begrüßung und der Anbetung. Ich beugte mein Haupt und verehrte den Glanz meines Vaters, der es mir gesandt hatte, dessen Befehle ich befolgt hatte, so wie auch er tat, was er verheißen hatte; und am Tore seiner Satrapen gesellte ich mich zu seinen Großen, denn er hatte Wohlgefallen an mir und nahm mich auf, und ich war mit ihm in seinem Reiche. Und beim Klange von Wasserorgeln priesen ihn alle seine Diener dafür, dass er verkündete, dass ich zum Tore des Königs der Könige gehen solle und mit der Opfergabe meiner Perle mit ihm zusammen vor unserem König erscheinen solle.

Der Brief des Vaters steht in diesem Gleichnis natürlich für das Evangelium. Denn es sind die Worte der Heiligen Schrift, die auch uns in ‹Ägypten› dieser Welt wecken sollten, wie es so schön im Epheserbrief heisst:

Alles Erleuchtete ist Licht. Deshalb heisst es: Wach auf, du Schläfer, / und steh auf von den Toten / und Christus wird dein Licht sein. (Eph 5,14)

Diese Verse sind ein Zitat aus der frühchristlichen Taufliturgie, wo den Getauften in der Osternacht beim Licht der Kerzen verkündet wird, dass ihre wahre Heimat das Reich des Lichtes ist. Und das ist auch die Botschaft, die der «Brief des Vaters» uns und allen Menschen heute und morgen und immer wieder verkündet, damit wir eines Tages hoffentlich aus dem tiefen Schlaf erwachen.

Und was ist die Perle in diesem Gleichnis? Die Perle ist unser irdisches Leben, also all die wertvollen Erfahrungen, die wir in dieser Welt gemacht haben und die wir in das Reich des Lichtes mitnehmen sollten.

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1 Deutsche Übersetzung nach Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II, Mohr Siebeck: Tübingen (1997) 1999, 344–348.