In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wie es in den Tagen des Noach war, so wird die Ankunft des Menschen-sohnes sein. Wie die Menschen in jenen Tagen vor der Flut aßen und tranken, heirateten und sich heiraten ließen, bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging, und nichts ahnten, bis die Flut hereinbrach und alle wegraffte, so wird auch die Ankunft des Menschensohnes sein. Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Und von zwei Frauen, die an derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Bedenkt dies: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben und nicht zulassen, dass man in sein Haus einbricht. Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet. (Mt 24,37–44)
Es ist ein grosses Verdienst des Physikers Albert Einstein (1879–1955), dass wir heute in einer ganz anderen Welt leben als unsere Vorfahren vor hundert oder zweihundert Jahren. Die Wende, die er im Jahre 1905 (also schon vor 117 Jahren) mit seiner ‹Relativitätstheorie› einläutete, lässt sich meines Erachtens nur mit der kopernikanischen Wende (1543) vergleichen – als sich die Erde vom Mittelpunkt des Universums verabschieden musste. Nur um es kurz zu illustrieren: Als Albert Einstein geboren wurde, war der Amerikanische Bürgerkrieg, der noch mit Schiesspulver geführt wurde, gerade mal 14 Jahre zu Ende (1865). Doch bereits zehn Jahre bevor Albert Einstein stirbt, wird im Zweiten Weltkrieg am 6. August 1945 die erste Atombombe eingesetzt. Es haben also gerade 80 Jahre ‹gefehlt›, also ein Menschenleben, und man hätte den Bürgerkrieg in Amerika vielleicht mit Atomwaffen ausgetragen. Albert Einstein war sich seiner Verantwortung als Physiker bewusst und hat auch einiges bereut. Doch jede Entdeckung hat ihre Kehrseite, wie es schon die Geschichte vom Garten Eden schön illustriert (Gen 2,17), und es obliegt uns, ob wir das neu erworbene Wissen zum Guten oder zum Bösen einsetzen, ob es uns Flügel verleiht oder uns zum Stolperstein wird.
Fest steht allerdings, dass die Welt vor und nach dem Biss in den berüchtigten ‹Apfel› ganz anders aussieht. So war es bei Kopernikus (1473–1543) und so ist es auch bei Albert Einstein der Fall. Denn bis zu der Relativitätstheorie haben die Menschen im Grunde in dem Universum von Isaac Newton (1643–1727) gelebt, das an ein Uhrwerk erinnert und wo insbesondere die Zeit eine absolute Grösse war. In unserem Universum dagegen, also in dem Universum nach Albert Einstein, ist die Zeit flexibel, «relativ» eben. Die Zeit in diesem Universum ist beispielsweise davon abhängig, ob ich mich schnell oder langsam bewege; oder davon, ob ich sie auf der Erde oder auf dem Mond messe. Denn die Zeit ist nicht unabhängig von dieser Welt, sondern sie ist mit ihr fest verbunden und bildet zusammen mit der Länge, Breite und Höhe das sog. «Raum-Zeit-Kontinuum», in dem wir leben.
Ich kann mir gut vorstellen, dass einige jetzt denken: ‹Ach du meine Güte, eigentlich wollte ich heute keine Einführung in die Physik hören›. Doch diese kleine Einführung war notwendig, um zu zeigen, dass wir in einer ganz anderen Welt leben, als die meisten Menschen immer noch denken: In dieser Welt ist die Zeit nicht nur flexibel, sondern sie ist auch nur eine Eigenschaft der Schöpfung, wie es schon der Hl. Augustinus (354–430) schreibt:
Also ist ohne Zweifel die Welt nicht in der Zeit, sondern zugleich mit der Zeit erschaffen worden. (De civitate Dei, XI,6)
Wenn die Welt also aufhört zu existieren, hört auch die Zeit auf, und wenn Sie diese Welt verlassen, verlassen Sie auch die Zeit. Das mag immer noch sehr theoretisch klingen, doch dem ist nicht so, denn jede und jeder von uns macht diese Erfahrung jeden Tag. Und vielleicht ist die Adventszeit genau die richtige Zeit, um sich für diese Erfahrung bewusst Zeit zu nehmen.
Sie haben Ihre Zeit nämlich in den Händen und damit meine ich nicht den Terminkalender, sondern die erlebte Zeit. Vielleicht haben Sie ja schon gemerkt, dass die Zeit im Urlaub, oder wenn Sie etwas Schönes machen, ganz anders läuft. Und kleine Kinder, die sind erfahrungsgemäss mit einer ganz anderen Uhr unterwegs als die Erwachsenen. Die übliche Erklärung lautet, es sei lediglich die subjektive Wahrnehmung der Zeit, doch diese psychologische Erklärung wage ich hier heute zu bezweifeln und Sie können damit in der Adventszeit gerne selbst experimentieren. Denn es ist so, dass die Zeit auch anders läuft, wenn Sie zum Beispiel schlafen oder meditieren: Sie schlafen fünf Minuten, doch im Traum erleben Sie eine ganze Weltreise; oder Sie meditieren vierzig Minuten und es fühlt sich wie zwei Minuten an. Was ist passiert?
Der Geist in Ihnen, der «innere Mensch», wie es Paulus sagen würde (2Kor 4,16), ist nicht ein Teil dieser Welt, sondern der Ewigkeit – einer Welt ohne Zeit. Und wenn sich das Bewusstsein dorthin verlagert, auch wenn es nur sehr kurz ist, befinden Sie sich ausserhalb der Zeit. Das ist die Erklärung. Man könnte es mit einem Kinosaal vergleichen: Das Leben in dieser Welt ist der Film, den Sie sich anschauen. Wenn Sie den Kinosaal für fünf Minuten verlassen, läuft der Film natürlich weiter, doch Sie können in den fünf Minuten ziemlich viel verpassen. Es sei denn, Sie schauen sich gerade einen sehr langsamen oder langweiligen Film, in diesem Fall verpassen Sie vielleicht nichts und die fünf Minuten ausserhalb des Kinosaals können sehr erfrischend sein. Was ich damit sagen will, ist das, dass die erlebte Zeit sehr flexibel ist, und zwar in alle Richtungen. Und das können Sie in der Adventszeit ausprobieren und sich zunutze machen.
Wenn Sie Stress und das Gefühl haben, keine Zeit mehr zu haben, oder wenn Sie einsam sind und die Zeit unerträglich lang wird, ist die Lösung die gleiche: Steigen Sie aus, verlassen Sie kurz diesen ‹Kinosaal›. Die Meditation oder das Herzensgebet sind ein guter Anfang; oder auch nur 10 bewusste Minuten Stille und vielleicht ein kurzer Blick in das Gebetbuch oder die Losungen. Durch diese Pause gewinnen Sie nicht nur mehr an erlebter Zeit, sondern Sie werden auch Schritt für Schritt bewusster leben und das ist genau das, was von uns (und für uns) das heutige Evangelium will.
Denn wir wissen nicht, wann der wahre ‹Adventus Domini› da ist, also wann der Herr kommt (V.42) und diese Welt endet (Mt 24,33). Jesus sagt, es wird so sein, wie es in den Tagen des Noach war (V.37) – alles ganz plötzlich und unerwartet. Doch die Lösung ist nicht ein Leben in Angst, das wäre kein Leben, sondern ein wachsames Leben. Die Aufforderung «Seid wachsam!» (V.42) hat also viel mehr mit dem Bewusstsein und der Achtsamkeit zu tun als mit schlaflosen Nächten. Wir sollten die ‹Erwachten› werden – also ‹Buddhas› würde man in Indien sagen. Das ist das, was die zwei Männer auf dem Feld (V.40) und die zwei Frauen an der Mühle (V.41) unterscheidet. Einige sind in ihrem Geist wach und leben, andere sind noch im tiefsten Schlaf. Denn es ist keine Geschichte von Gott, der am Ende der Tage nach rätselhaften Kriterien jemanden mitnimmt und jemanden zurücklässt. Es ist vielmehr eine Geschichte von Gott, der will, dass wir schon jetzt und hier zum Leben erwachen.