Wunder der Zeit

So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag. (Lk 2,16)

Wer sich das Plakat für unseren heutigen Gottesdienst genauer angeschaut hat, der hat sich vielleicht ein wenig gewundert und gedacht, da hat der Pfarrer wohl kein passendes Bild gefunden. Denn das Bild zeigt Maria mit dem Kind und einem blühenden Baum. Das wäre jetzt vielleicht irgendwo auf der Südhalbkugel zutreffend, aber nicht bei uns. Denn bei uns blühen im Dezember keine Bäume. Aber vielleicht hat der Pfarrer ja zu viel Stress an den Feiertagen und keine Zeit sich Gedanken über das Bild auf dem Plakat zu machen. Allerdings hat sich der Pfarrer in diesem Fall sehr wohl Gedanken gemacht und mit Absicht gerade dieses Bild gewählt.

Aber ich stimme zu, es wäre ein Wunder, wenn so etwas jetzt passieren würde. Stellen Sie es sich vor: Sie gehen im Winter eine Strasse entlang, wo Sie jeden Tag spazieren, und plötzlich sehen Sie an einem Haus einen blühenden Baum in seiner ganzen Pracht. Nicht ein paar Ästchen, die einfach etwas durcheinander sind und sich entschieden haben im Winter zu blühen, sondern ein ganzer Baum. Ich würde in diesem Fall sogar an der Tür läuten und fragen, was für einen Wunderbaum sie im Garten haben. Und die Familie, die dort wohnt, würde vielleicht sagen, sie wissen es auch nicht, denn der Baum steht dort schon seit Jahren und so etwas ist es noch nie passiert. Und sie haben auch nicht wirklich Zeit, sich darüber Gedanken zu machen oder den Baum zu bewundern, denn bei ihnen ist gerade ein Kind geboren worden und dieses Neugeborene braucht ihre ganze Aufmerksamkeit.

Ein moderner Mensch würde nun nach Hause gehen und sich wundern, was für eine seltsame Sache es sei. Vielleicht würde man es auch den Nachbarn erzählen, aber damit hat es sich auch erledigt, denn ein Baum bleibt im Winter nicht lange am Blühen und so gäbe es bald auch nichts mehr zu berichten. Heutzutage wäre es also für die meisten Menschen eine ‹Spielerei der Natur›. Ein Mensch der Antike, würde dagegen gleich wissen, was hier vor sich geht. Und als er noch erfahren würde, dass in diesem Haus gerade ein Kind geboren wurde, wäre die Sache für ihn vollkommen klar. Denn solche Zeichen und Wunder können nur die Geburt eines göttlichen Kindes begleiten – das wusste man in der Antike, und zwar über die kulturellen Grenzen hinaus:

So war es zum Beispiel auch bei der Geburt des bekannten Philosophen Apollonios von Tyana (ca. 3–100 n.Chr.), der ein Zeitgenosse und fast ein griechischer Doppelgänger Jesu war. Denn wie Philostrat in seiner Biografie schreibt:

Apollonios soll auf einer Wiese geboren worden sein, auf der ihm inzwischen ein Heiligtum errichtet worden ist. […] [Seine Mutter legte sich dort] ins Gras und schlief ein. Schwäne nun, welche die Wiese nährte, bildeten einen Chor um die Schlafende, hoben die Flügel, wie sie es gewohnt sind, und stimmten einen gemeinsamen Gesang an. Dazu wehte ein leichter Westwind über die Wiese. Die Mutter aber fuhr wegen des Gesanges auf und gebar den Apollonios. […] Die Einheimischen [sagen auch], daß bei seiner Geburt […] ein Blitz auf die Erde herabzufahren schien, der sich wieder zum Äther erhob und oben verschwand. Die Götter wollten damit, wie ich meine, die deutliche Erhabenheit des Apollonios über alles Irdische; die Nähe zu den Göttern und überhaupt alles, was dieser Mann verkörperte, zeigen und im voraus ankündigen. (Vita 1.5)

Und über die Geburt von Siddhartha Gautama, den wir als Buddha kennen, wird erzählt:

[er] machte gleich nach der Entbindung sieben Schritte, unter denen jeweils eine Lotosblüte aus dem Boden wuchs, und verkündete: «Das ist meine letzte Geburt, ich werde nie mehr in einem Mutterleib weilen.» Dies geschah am 8. Tag des Vierten Monats. Das Kind wurde Siddhartha genannt, was etwa «der sein Ziel erreicht» bedeutet. (Tournier/Strong 2019:5)

Und man könnte noch andere Beispiele aus der Geschichte nennen, wo die Empfängnis, Geburt und die Kindheit dieser besonderen Kinder von Zeichen und Wundern begleitet werden. Und die Menschen in der Antike wussten auch, was diese Zeichen zu bedeuten haben. Sie konnten sie noch lesen.

Wir sind heute aufgeklärter, doch hiermit auch blinder geworden. Das ist auch die Erklärung dafür, warum so wenige Menschen heute bei uns – im aufgeklärten Europa – Wunder erleben: Denn es gibt nicht weniger Wunder als damals, aber es gibt wenige Menschen, die sie sehen. Die Wunder passieren nämlich jeden Tag vor unseren Augen, wir sehen sie aber nicht mehr. Unsere Vernunft erlaubt es uns nicht; denn wir wollen für alles eine rationale Erklärung haben. Doch etwas erklären zu können und etwas zu erleben, sind zwei unterschiedliche Sachen. Nehmen wir als Beispiel ein Gemälde der Alten Meister in der Galerie: Was würde es uns nutzen, alles über die statistische Verteilung und die chemische Zusammensetzung der Ölfarben auf der Leinwand zu erfahren, wenn wir nicht das eigentlich Gemalte sehen oder verstehen würden? Wenn unser Herz nicht von den «Sonnenblumen» von Vincent van Gogh oder von den «Seerosen» von Claude Monet berührt wird?

Die Welt, in der wir leben, unterscheidet sich nicht sehr viel von der Welt, in der Jesus geboren wurde und gelebt hat. Ja, die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt und mit ihr auch die Wissenschaft und Technik. Doch auch in unserer Welt weht immer noch der gleiche Geist Gottes, der uns die Augen öffnen will, damit wir seine Wunder sehen und an sie glauben. Es ist vielleicht anders als vor zwei Tausend Jahren, aber diesen Geist kann man nicht verdrängen – er findet immer einen Weg zu den Menschen. Er spricht vielleicht nicht mehr durch Propheten, Orakel oder Wundertäter, aber er ist da und findet seinen Weg zu uns auch heute: vielleicht durch Musik, Literatur, Malerei und jede Art von Kunst oder durch einen schönen Sonnenuntergang in den Bergen oder am See. Denn hier sind wir offen, hier darf auch der (in Anführungszeichen) ‹moderne› Mensch noch glauben. Was sollte uns aber daran hindern, auch durch den Alltag mit offenen Augen zu gehen? Unser Leben und die Welt um uns herum als Kunstwerk zu betrachten? Denn sie sind es! Und wenn es uns gelingt den verschneiten Baum im Garten mit den gleichen Augen zu sehen, wie den Christbaum in der Stube, oder die Schafe auf dem Felde wie die bei der Weihnachtskrippe, dann werden auch wir die Wunder sehen, die tagtäglich vor unseren Augen passieren und etwas von dem Weihnachtszauber wird auch unseren Alltag verwandeln. Und dies wünsche ich uns allen für die kommenden Tage.